24.01.2022 | Ehe- und Familienrecht | ID: 1108493

Der Umgang mit Kindeswohlgefährdungen in Theorie und Praxis: Ein Überblick

Sebastian Öhner - Dunja Gharwal - Claudia Grasl

Der Umgang mit Kindeswohlgefährdungen stellt einen zentralen Aspekt des Kinder- und Jugendschutzes dar. Welche Handlungsschritte sollten in der Praxis gesetzt werden?

Der Umgang mit Kindeswohlgefährdungen stellt für alle Personen, die in einem solchen Fall aktiv werden müssen, stets eine große Herausforderung dar. Kommt es zu einer Situation, in der das Wohlergehen eines Kindes nicht mehr gesichert ist, ist rasches und höchst sensibles Handeln gefragt. Um für all jene Fälle eine bestmögliche Handlungsanleitung geben zu können, ist eine interdisziplinäre Betrachtungsweise nicht nur wichtig, sondern auch zwingend geboten.

Das Kindeswohl als Bewertungsgrundlage 

Der Begriff Kindeswohlgefährdung selbst ist ein rechtliches Konstrukt.[1] Blickt man auf die juristischen Hintergründe zur Definition der Kindeswohlgefährdung, findet man den wichtigsten Ansatzpunkt in der VN-Kinderrechtskonvention (VN-KRK). Diese stellt das Rückgrat des internationalen Kinderschutzes dar[2] und hat unter anderem durch die Etablierung eigenständiger Rechte von Kindern und Jugendlichen einen weltweiten Paradigmenwechsel eingeläutet.[3] Eines der Grundprinzipien der VN-KRK ist das Kindeswohl.[4] Diese zentrale kinderrechtliche Bestimmung wurde auch in Art 24 der Europäischen Grundrechtecharta und in Art 1 des Bundesverfassungsgesetz über die Rechte von Kindern übernommen. Somit ist das Kindeswohl auch in Österreich eines der wichtigsten Leitprinzipien im Bereich der Kinderrechte.

Das Kindeswohl ist ein dynamischer Rechtsbegriff. Darunter versteht man, dass bei seiner Beurteilung immer das Wohl eines konkreten Kindes oder einer Gruppe von Kindern untersucht werden muss.[5] Um das Kindeswohl also im Einzelfall konkret bewerten zu können, wurde in der österreichischen Rechtsordnung ein Katalog mit Parametern zu dessen Bestimmung etabliert. Zu finden ist diese Aufzählung, die sich grob in immaterielle Rechte, materielle Rechte und Rechte betreffend der negativen Auswirkungen auf die Psyche des Kindes einteilen lässt, in § 138 ABGB.[6] Dieser Katalog, der auch über den Bereich des Zivilrechts hinaus für die Beurteilung des Kindeswohl herangezogen wird,[7] stellt vor allem in familienrechtlichen Fällen die Basis für die umfassende Beurteilung des Kindeswohls dar. Ein weiterer zentraler Aspekt ist die Berücksichtigung des Kindeswillens. Hierbei wird in den entsprechenden Verfahren vor Gericht auch oft auf einen Kinderbeistand zurückgegriffen, der den Willen des Kindes artikulieren soll. Die Berücksichtigung des Kindeswillens kann dazu führen, dass die in die Streitigkeit involvierten Personen wieder einen besseren Blick für die Bedürfnisse des Kindes erlangen.[8] Dennoch ist es ebenso möglich, dass der Kindeswille nicht dem entspricht, was nach objektiver Beurteilung dem Kindeswohl am besten entsprechen würde. Das hier entstehende Spannungsverhältnis ist dabei so aufzulösen, dass der Wille des Kindes nur so weit zu berücksichtigen ist, als dass er das Wohl des Kindes nicht schädigt.[9]

Kindeswohlgefährdung und Methoden der Gesamtbetrachtung

Das ausreichende Verständnis davon, wie das Kindeswohl zu beurteilen ist, ist auch bei der Einschätzung, ob in einem konkreten Fall eine Kindeswohlgefährdung vorliegt, zentral. Untersucht wird in einem solchen Fall stets die Gesamtsituation, in der sich das Kind befindet.[10] Dabei gibt es verschiedene Faktoren, die das Risiko einer Gefährdung im Zweifelsfall erhöhen. Zu berücksichtigen sind dabei die physische oder psychische Gesundheit des Kindes, die altersgemäße Entwicklungs- und Entfaltungsmöglichkeit, die soziale Integration oder die in der wirtschaftlichen Sphäre des Kindes liegenden Interessen.[11] Demgegenüber stehen Schutzfaktoren, die risikomildernd und entwicklungsfördernd wirken können.[12] In diesem Zusammenhang kann auch das funktionierende Zusammenhalten innerhalb einer Familie als besonders starker Schutzfaktor verstanden werden. Unter Berücksichtigung und Abwägung der Risiko- und Schutzfaktoren ist die potentielle Kindeswohlgefährdung zu untersuchen.

Für die Kinder- und Jugendhilfe ist für die Beurteilung von Kindeswohlgefährdungen vor allem das Bundes-Kinder- und Jugendhilfegesetz (B-KJHG) ausschlaggebend. Dieses 2013 eingeführte Bundesgesetz sollte bundesweite Mindeststandards für die Kinder- und Jugendhilfe festlegen. Durch eine kompetenzrechtliche Änderung im Jahr 2019 wurden jedoch große Teile der Kinder- und Jugendhilfegesetzgebung in den Aufgabenbereich der Länder verschoben, sodass vom B-KJHG nur noch ein „Rumpfgesetz“ und eine Vereinbarung nach 15a Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) übrig blieb.[13] Die so entstandene Vielzahl an unterschiedlichen Regelungen macht sich vor allem im Bereich der Handlungsschritte bei Kindeswohlgefährdungen bemerkbar. In ganz Österreich gilt jedoch weiterhin die in § 37 B-KJHG verankerte Definition der Kindeswohlgefährdung. Diese liegt dann vor, wenn ein Kind oder Jugendlicher Misshandlung, Quälen, Vernachlässigen bzw sexuellem Missbrauch ausgesetzt ist oder sein Wohl in sonstiger Weise gefährdet ist.[14]

Handlungsschritte in der Praxis

Tritt eine solche Situation auf, muss sich in der Praxis mit der Frage auseinandergesetzt werden, wie damit umzugehen ist. Die Regeln bezüglich der Mitteilungspflicht befinden sich ebenfalls in § 37 B-KJHG. Wichtig ist hier, dass Pflicht zur Mitteilung an den Kinder- und Jugendhilfeträger nur besteht, wenn der begründete Verdacht sich aus der beruflichen – und nicht aus der privaten – Tätigkeit ergibt und die konkrete erhebliche Gefährdung des Kindes oder Jugendlichen anders nicht verhindert werden kann.[15] Zusätzlich ist zu betonen, dass mitteilungspflichtige Personen nicht an die strafrechtliche Interpretation der genannten Tatbestände gebunden sind, sondern ihre Entscheidungen basierend auf fachlichen Standards treffen können.[16] Von der Mitteilungspflicht zu unterscheiden ist die Anzeigepflicht an die Kriminalpolizei oder die Staatsanwaltschaft, welche ihre Grundlage in der Strafprozessordnung (StPO) hat. Wann eine Anzeige zu erstatten ist, wird hier primär in § 80 bzw 78 StPO geregelt. Zusätzlich können jedoch auch hier spezifische Berufsrechte, wie zB für Gesundheitsberufe, andere Regelungen festlegen.[17] In der Praxis kommen zudem oft auch Fragen auf, wie mit entsprechenden Verschwiegenheitspflichten umzugehen ist. Die Regelungen hierzu finden ihre Grundlage schon in Art 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention und sind zudem noch in den jeweiligen Kinder- und Jugendhilfegesetzen der Länder bzw in spezifischen Berufsrechten näher ausgestaltet. Daneben nimmt auch die Pflicht zur Dokumentation eine bedeutende Rolle in der Kinder- und Jugendschutzpraxis ein. Ziel der Dokumentation ist dabei einerseits das Festhalten der erbrachten Leistungen und auch andererseits die Sicherstellung der Informationen für einen möglichen Wechsel der Zuständigkeiten. Weiters sollen aber auch die einzelnen Schritte nachvollziehbar aufbereitet werden, damit diese auch überprüfbar sind.

Wichtig in der Praxis des Kinder- und Jugendschutzes ist das Vorgehen im Rahmen der Gefährdungsabklärung und der Erstellung eines Hilfeplans. Ursprünglich geregelt im B-KJHG finden sich die gesetzlichen Bestimmungen auch hier in den jeweiligen Landesgesetzen wieder. Ziel der Gefährdungsabklärung ist das Risiko einer Kindeswohlgefährdung in einem konkreten Fall einzuschätzen. Sie soll nach strukturierten, fachlichen Standards durchgeführt werden und basiert auf der umfassenden Erhebung des Sachverhalts, der den Verdacht hervorgerufen hat.[18] Liegt eine Kindeswohlgefährdung vor, ist sodann ein für den spezifischen Fall passender Hilfeplan zu erstellen. Der Hilfeplan soll die „angemessene soziale, psychische, kognitive und körperliche Entwicklung und Ausbildung der betroffenen Kinder und Jugendlichen“ gewährleisten.[19]

Fazit

Der Umgang mit Kindeswohlgefährdungen stellt einen zentralen Aspekt des Kinder- und Jugendschutzes dar. Über die verschiedenen Bereiche hinweg zeigt sich dabei, dass eine umfassende Überprüfung der Gesamtsituation und eine interdisziplinäre Betrachtungsweise notwendig sind, um die bestmöglichen Handlungen setzen zu können. Die Regelungen im Bereich des Kinder- und Jugendschutzes sind dabei, vor allem seit der Kompetenzverschiebung im Kinder- und Jugendhilferecht, teilweise undurchsichtig und zersplittert. Nicht nur deswegen ist es umso wichtiger, das Kindeswohl als zentralen Ankerpunkt bei allen Kinder und Jugendlichen betreffenden Angelegenheiten stets vor Augen zu haben.

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[1] Kinderschutz-Zentrum Berlin, Kindesmisshandlung. Erkennen und Helfen, 2009, 11. Auflage, 21.

[2] Sax in Schutz mit System? Internationale kinderrechtliche Standards zum Schutz von Kindern vor Gewalt in der Familie und ihre Umsetzung in Österreich, 2020, 103.

[3] Schmahl, Kinderrechtskonvention mit Zusatzprotokollen2 (2017), 59; Fuchs, Kinderrechte in der Verfassung: Das BVG über die Rechte von Kindern, Jahrbuch Öffentliches Recht 2011, 95.

[4] Grabenwarter, Zur Frage der Integration der Garantien der Kinderrechtekonvention in das österreichische Bundesverfassungsrecht in Berka/Grabenwarter/Weber, Studie zur Kinderrechtskonvention und ihrer Umsetzung in Österreich, BMFJ Wien, 2014, 30; Schmahl, Kinderrechtskonvention mit Zusatzprotokollen2 (2017), S 56.

[5] Siehe in Committee on the Rights of the Child, General Comment No. 14, on the right of the child to have his or her best interests taken as a primary consideration (2013), CRC/C/GC/14, 4.

[6] Aufzählung übernommen aus Deixler-Hübner/Mayrhofer in Kletečka/Schauer, ABGB-ON1.07 § 138, Rz 6f.

[7] Kasper, Das Kindeswohlprinzip bei Rückkehrentscheidungen, Jahrbuch Asylrecht und Fremdenrecht 2020, S 278; VwGH 15. 5. 2019, 2018/01/0076, VwGH 24. 9. 2019, 2019/20/0274.

[8] Beck in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG I2 § 104a, Rz 1; Lehner, "Dem Kind eine Stimme geben", iFamZ 2008, 275.

[9] Siehe in Dettenborn, H. (2001). Kindeswohl und Kindeswille.

[10] Deixler-Hübner in Kletečka/Schauer, ABGB-ON1.07 § 182, Rz 3.

[11] Deixler-Hübner in Kletečka/Schauer, ABGB-ON1.07 § 182, Rz 3.

[12] Vgl Zander, Armes Kind- starkes Kind? in Die Chance der Resilienz, 2009, 38-45.

[13] Siehe Vereinbarung gemäß Artikel 15a B-VG über die Kinder- und Jugendhilfe, LGBl Nr 149/2019, Art 2.

[14] Siehe ErlRV 2191 BlgNR 24. GP, § 37.

[15] Siehe ErlRV 2191 BlgNR 24. GP, § 37.

[16] Sax in Schutz mit System? Internationale kinderrechtliche Standards zum Schutz von Kindern vor Gewalt in der Familie und ihre Umsetzung in Österreich (Dissertation), 2017, S 167.

[17] Siehe bspw Bundesgesetz über die Ausübung des ärztlichen Berufes und die Standesvertretung der Ärzte (ÄrzteG 1998) IdF BGBl I Nr 105/2019, § 54.

[18] Kapella/Rille-Pfeiffer/Schmidt, Evaluierung des Bundes-Kinder- und Jugendhilfegesetzes (B-KJHG) 2013, ÖIF Forschungsbericht Nr 29, S 26; Hubmer in Loderbauer (Hrsg.) Recht für Sozialberufe4, 2016, S 397f.

[19] Siehe bspw S.KJHG, LGBl Nr 32/2015 idF VII Nr 29/2020, § 16 Abs 1.

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